Geschichte von Sankt Martin im Calfeisental
Sankt Martin im Calfeisental 1350 M.ü.M
Die Walser kamen anfangs des 14. Jahrhunderts von ihren einstigen Höfen zu Fidaz über das Trinser Fürggli ins Calfeisental und besiedelten es so von oben nach unten. Einige Walserfamilien erhielten die Alp Sardona und das gesamte Calfeisental als Lehen vom Kloster Pfäfers. So entstand eine Kolonie von hundert Personen in zwölf Familien.
1312 bauten sie das Kirchlein als Pfarrkirche mit Ewigem Licht. Der Pfarrer von Weisstannen kam anfangs zwölfmal, später noch viermal im Jahr. Aus dem Tale kamen Priester für Taufen, Trauungen und Beerdigungen.
Aber schon bald – anfangs des 15. Jahrhunderts – setzte ein reges Zu- und Abwandern ein. Mitte des 15. Jahrhunderts begann dann die eigentliche Abwanderung. Gegen 1500 wurde das Gebiet der Sardona wieder zur Alp, und in den folgenden Jahrzehnten ging Hof um Hof durch den Verkauf als Alp in die Hände von Besitzern aus dem Unterland über. Mitte des 16. Jahrhunderts erfolgte die grosse Abwanderung der Walser nach Weisstannen, St. Margrethenberg, der Bündner Herrschaft und nach Gams.
In Sankt Martin war nur noch ein Mesmer mit seiner Familie ansässig. Kurz nach dem Jahre 1652 verliessen auch die letzten Calfeisen – Walser – die Frau des verstorbenen Mesmers, Ursula Sutter und ihre beiden Söhne – das Tal und zogen nach Vättis. Sie betrieben ihr verbliebenes Lehen zu Sankt Martin nur noch als Sommergut. Seither ist das ganze Calfeisental wieder zu Alp und Wald geworden.
Das Schicksal der Calfeisen – Walser hatte sich somit erfüllt, weil das Wagnis der Walser – Pioniere offenbar zu gross und die feindliche Bergwelt zu mächtig gewesen ist. Der Siedlungsraum war ungünstig, denn es fehlte wegen dem hohen Ringelspitz – Massiv (als dem höchsten Berg des Kantons St. Gallen) die nötige Sonnenbestrahlung. Die Höfe erhielten im Winter monatelang kein wärmendes Licht.
Diese überaus beschwerliche, lange Winterszeit aber verlangte viel Brennholz, und die einseitige Viehwirtschaft brauchte Matten und Weiden. Deshalb wurde immer wieder neuer Wald gerodet und der Natur somit arg zugesetzt. Der Schwund des Baumwuchses brachte eine Verwilderung des Tales mit sich. Lawinen und Rüfen brachen durch die Restbestände des Waldes und gefährdeten die Ansiedlungen.
Schliesslich aber war auch die geografische Abgelegenheit mit den schlechten Verkehrsbedingungen mitschuldig am Niedergang dieser Walserkolonie. Über das Trinser Fürggli nach Flims, über den Heubützli- und Foopass ins Sernftal und über den Heitelpass nach Weisstannen, führten nur beschwerliche Sommerpfade. Und auch talauswärts nach Vättis war der Weg schwierig und zeitweise gar lebensgefährlich. Durch diese Erschwernisse war der zwingend notwendige Warenaustausch der Walser noch zusätzlich behindert.
Sankt Martinskirchli
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1312 Bau des Kirchleins
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Patron wurde der Heilige Martin, Bischof von Tours, als Heiliger bei den Walsern von jeher beliebt
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1472 wird die Martinsalp (Brändlisberg) als Kirchengut erstmals genannt
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1652 Im Kirchli wurde im Kirchli das Ewige Licht gelöscht. Seither liest der Pfarrer von Vättis im Kirchlein während des Sommers einige Messen. Auch heute noch – wie vor alter Zeit – ist am Sonntag nach St. Jakob (25. Juli) in St. Martin das Kirchweihfest mit Messe, Musik und anschliessender Chilbi. Der Sonntag heisst „Jakobi – Sunntig“
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1858 wird die Kapelle mit der Kirchgemeinde Vättis vereinigt
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1955 begann eine gründliche Restaurierung. Das Kirchlein wurde anschliessend unter Denkmalschutz gestellt. Der derzeitige Altar stammt aus dem Jahre 1709. Am Altar stehen die Statuen St. Martin mit Kind und der hl. Pirmin, Gründer vom Kloster Pfäfers. Es sind alles Nachbildungen, die Originale sind im Museum in Vättis.
Historische Postkarten
Gastronomie
Schon früh haben die Familien Kohler während des Sommers eine kleine Wirtschaft in einem der alten Häuser betrieben (Anian Kohler bis 1951 und Martin Kohler bis zu seinem Tode 1972). Im Jahre 1973 hat Klemens Nigg den einsamen Weiler übernommen und renoviert. Als Walser fühlte er sich berufen, Sankt Martin zu erhalten. Klemens Nigg starb 1990. Seine Frau Lisa Nigg mit ihrem Sohn Christian Lampert führten seither die Walsersiedlung Sankt Martin weiter.
Seit 1997 gehörte auch Christians Ehefrau Damaris zum Team, und mit den zwei Kindern ist bereits wieder junges Leben eingekehrt auf Sankt Martin. Durch den Bau des Kraftwerkes Sarganserland und der besseren Zufahrtsstrasse ist Sankt Martin zu einem beliebten Ausflugsziel geworden und zieht viele Wanderfreunde aus nah und fern in seinen Bann.
Die Familien Lampert-Anrig und Lisa Nigg führten die Walsersiedlung traditionsgemäss und erfolgreich weiter.
Im Frühling 2015 haben Conny Heidelberger und Christoph Bacher Sankt Martin übernommen. Christoph Bacher der aus dem Goms stammt bringt so das Walliserdeutsch wieder nach Sankt Martin.
Im Jahreswechsel 2016-2017 wird das Dorf und die 19ha Grundstück durch eine Aktiengesellschaft von Familie Bacher abgekauft. Mitbesitzer und Gastgeberehepaar Anne und André Riehle führten seit der Saison 2017 das Hotel und Restaurant Sankt Martin. Im Jahr Jahr 2020 haben Susanne Schenk und Marc Brunner die Gastgeberrolle übernommen. Sie hatten sich für eine Saison zur Verfügung gestellt und dafür ihre persönlichen Ausbildungszeitpläne angepasst. Mit Astrid Riser (ehemalige Gigerwald-Wirtin) und ihrer Tochter Petra Eggenberger treten erneut zwei Profis in die Fussstapfen. Beide sind in der Region bestens bekannt und verwurzelt.
Ab 01.02.2024 übernehmen Neu die Gastronomin Judith Estermann ihre Schwester Monika Estermann und deren Partner Robert Spengeler die Alpwirtschaft & Berghotel Sankt Martin.
Die letzten Calfeisni
1652 verliessen die letzten Calfeisentaler ihr Dörfchen Sankt Martin, 1637 wurde Peter Sutter als Letzter beerdigt.
Das Zeichen war deutlich. Als sich im Spätherbst des Jahrs 1652 das Wasser im hölzernen Brunnentrog erstmals mit einer dünnen Eisschicht überzog, war es soweit. Die Witwe Ursula Sutter zog mit den letzten beiden ihr verbliebenen Kindern vom Walserdörfchen Sankt Martin hinaus ins ganzjährig bewohnte Dorf Vättis. Die drei waren die Letzten, die dem während 350 Jahren besiedelten Hochtal Calfeisen den Rücken kehrten. Das Leben war zu rau und unwirtlich geworden, die ausgedünnte Gemeinschaft hatte ihre Lebensgrundlagen verloren.
Eine späte Würdigung
Fünfzehn Jahre vorher starb der Familienvater Peter Sutter. Er war der letzte einer langen Folge von grossgewachsenen und kräftigen freien Walsern, der sein ganzes Leben im wilden Tal ums Überleben gekämpft hatte. Die „raue Wildnis“, wie es in einem ersten Dokument aus dem 14. Jahrhundert heisst, war ihm trotz der widerwärtigen Natur das Leben lang Heimat geblieben. Er wurde auf dem Friedhöfli beim Kirchli beerdigt.
Peter Sutter kämpfte ums Überleben und den Fortbestand der Walserkolonie Calfeisen. Er starb in Sankt Martin, der letzten ganzjährig bewohnten Siedlung. Ursula Sutter, deren Verwandtschaft zu ihm nicht mehr geklärt werden kann, setzte sein Beharren fort – solange es noch einigermassen ging, und bis sie sich, wahrscheinlich von ihren bereits in Vättis verheirateten Töchtern, zum Wegzug ins Nachbardorf überzeugen liess.
Rückblickend wird das Bewohnen der Höhen des Calfeisentals als kühnes kolonisatorisches Experiment des Mittelalters, als unwirtlichster Walsersitz, gewürdigt. Eine entbehrungsreiche, aber erstaunliche kulturelle und menschliche Aufgabe sei es gewesen, steht im Kulturführer des Calfeisentals.
Heute bildet das Calfeisental das Grenzgebiet der Kantone St.Gallen (zu dem es gehört), Graubünden und Glarus. Ein Stausee reicht im gefüllten Zustand bis fast an die Grundmauern des im Jahr 1312 erbauten Kirchleins, das in tadellosem Zustand ist. Im furchtbaren Lawinenwinter 1999 entging es allerdings nur knapp der Zerstörung.
Das Leben wurde härter
Bis 1637 wehrte sich Peter Sutter tagtäglich für sich und die Seinen. Im Winter hiess es, bei jedem Schritt vors Haus und bei den Gängen zu den weit entfernten Ställen, wachsam zu sein wegen der drohenden Lawinengefahr. Die kargen Lebensmittelvorräte mussten eingeteilt werden, damit sie bis zur nächsten Ernte ausreichten. Die Menschen lebten von dem, was das Tal und die Landwirtschaft hergaben: Milch und Käse, Fleisch, etwas Beeren und wenig Getreide. Im Sommerhalbjahr mussten die letzten Walser dauernd auf der Hut sein vor fremden Hirten der umliegenden Alpen, welche sich nicht an die uralten Marchen hielten und ihr Vieh trotz Verbot auf Walserwiesen weideten. Vor allem bei aussergewöhnlichen Schneefällen im Sommer wurde Walsereigentum gerne als Schneefluchten missbraucht. Die Walser mussten Ernteausfälle durch diese Beweidung verkraften.
Mehr und mehr war Peter Sutter auf sich allein gestellt. Der walliserdeutsch Sprechende musste miterleben, wie andere Calfeisni wegzogen. Was hätte ihnen Peter Sutter auch bieten sollen im Calfeisental: Die genügsamen und arbeitsgewohnten Frauen waren in Vättis willkommen und wurden dort rasch eingebürgert. Heiratswillige Burschen gab es im Walsergebiet keine mehr, alle waren ins angenehmere Unterland weggezogen. Eine Stubeti im Calfeisental, Besuche von heiratsfähigen Burschen bei ledigen Mädchen, war nicht mehr möglich. Die Walsergemeinschaft Calfeisen, die zu guten Zeiten mehr als hundert Einwohner hatte, war zu klein geworden. Vorbei war die Blütezeit des 15. Jahrhunderts, als dem Tal noch der eigene Ammann vorstand, als die Walser unter sich waren und die Weiden nicht mit Unterländer Hirten teilen mussten, als das Klima noch etwas wärmer war und neben dem Kirchli sogar ein kleiner Rebberg bestehen konnte. Bereits Mitte des 16. Jahrhunderts regierten nicht mehr der Ammann und die Talversammlung, sondern der Hunger und die Armut. Die sagenhafte Grösse und Kraft der Calfeisentaler Walser, geschaffen für die raue Wildnis, waren doch schwächer als die mächtige und unberechenbare Natur.
Ein langer Niedergang
Wenig blieb zurück, als 1652 Sankt Martin als letzte Siedlung im Calfeisental aufgegeben wurde. Das Kirchlein als markantes Erinnerungsgut hat sich zu einem Wallfahrtsort entwickelt. In seiner Mauer soll noch der letzte Kelch versteckt sein. Erhalten geblieben ist zudem das dem Kirchlein benachbarte letztgebaute doppelstöckige Wohnhaus. Es trägt die Jahrzahl 1588.
Der endgültige Niedergang der Calfeisentaler Walserkultur muss schon bei diesem Hausbau nur noch eine Frage der Zeit gewesen sein. Das Holz der weiteren verlassenen Häuser ist für Stallbauten oder zum Heizen benutzt worden. Aber verbliebene Mauerreste und Bodeneinbuchtungen, sogenannte Hosteten, verstreut auf der ganzen Sonnenseite des Tals, gemahnen noch an das Dutzend ehemaliger Weiler.
Geblieben ist trotzdem Vieles
Erinnerungen und Ausstellungsstücke sind geblieben. Das letzte Calfeisentaler Grabkreuz, jenes von Peter Sutter, ziert die Turmspitze des Kirchleins von Sankt Martin. Bei der Aufgabe des Friedhöfli war das schmiedeiserne Grabkreuz überflüssig geworden und erhielt die bis heute erhalten gebliebene zweite Verwendung als Turmkreuz. Peter Sutters Gebeine ruhen im Beinhäuschen neben dem Kirchlein. Allerdings sind die Trophäenstücke, der grosse Schädel und die langen Oberschenkel, schon vor vielen Jahrzehnten von Souvenirjägern gestohlen worden. Das Friedhöfli existiert nur noch dem Flurnamen nach.
Die beiden Söhne der Witwe Sutter, die 1652 mit ihr nach Vättis zogen, verheirateten sich später dort und bewirtschafteten Sankt Martin zumindest im Sommerhalbjahr weiter. Der Name Sutter kam noch bis im 20. Jahrhundert in Vättis vor. Noch heute leben auffallend viele grossgewachsene Menschen dort. Alle alteingesessenen einheimischen Familien verfügen über etwas Walserblut, als Nachfahren und deren Verwandter der Sutter und weiterer Walser. Die letzten Calfeisentaler Walser leben weiter: In den Erzählungen, in den verbliebenen Bauten und in den zahlreichen Nachkommen.
Axel Zimmermann, Vättis
Adresse:
Förderverein
"Pro Walsersiedlung St.Martin und Calfeisental"
Herr Dieter Nigg
Taminastrasse 16
7310 Bad Ragaz